# 43 Beziehungskunst und der Wunsch nach Autonomie.

Das Nähe- und Distanzbedürfnis ist bei jeder/m grundsätzlich unterschiedlich ausgebildet. Das hat einerseits mit unseren Erfahrungen und Prägungen zu tun und andererseits mit der Struktur unserer Persönlichkeit. Was ich in meiner Praxis immer wieder entdecke ist, dass diese Erfahrungen einen sehr frühen Ursprung haben. Das Distanzbedürfnis von Kindern wurde kaum gewahrt, und auch der Wunsch nach Nähe - vom Kind ausgehend – kann oft nicht entsprochen werden. Viele meiner mittlerweile erwachsenen Klient*innen erzählen mir von Eltern, die ihre Grenzen nicht bemerkt haben, oder das Bedürfnis nach getröstet werden, umarmt werden nicht wahrnehmen konnten. Für manche haben sich daraus tief kränkende Situationen ergeben, weil die Menschen in ihrem Umfeld diese Bedürfnisse abgewertet oder – noch schlimmer - sich darüber lustig gemacht haben.

Das macht es Kindern und Jugendlichen immens schwer, die eigenen Grenzen ernst zu nehmen und ein gesundes Gefühl von Nähe und Distanz aufzubauen, wie auch ein gesundes Identitätsgefühl zu entwickeln. Kinder sind ihren Eltern gegenüber tendenziell loyal eingestellt und vermeiden es ihnen absichtlich Schmerz, Leid, Kummer oder Ärger zu bereiten. Das geht allerdings auf Kosten der eigenen Autonomie, die gerade in der Pubertät so stark zu Identitätsbildung beiträgt. Die ersten Autonomie-Versuche starten Kinder in der Trotzphase. Ängstliche Eltern tendieren dazu, diese zu unterbinden und ihnen entgegenzuwirken. Aber auch für emotional sensible Eltern kann das zu einem inneren Konflikt führen, wenn Kinder beginnen sich ihre Eigenständigkeit zu erarbeiten.

Da kann es dann passieren, dass anschließendes Nähe Bedürfnis mit Ablehnung bestraft wird, weil die eigene Bedürftigkeit unbewusst bleibt und auf das Kind projiziert wird.

In späteren Jahren wirkt sich das auf die Beziehungen der nun erwachsenen Person aus. Entweder werden Grenzen starr und mit viel Widerstand eingehalten, oder es macht sich eine Distanzlosigkeit bemerkbar, die ebenfalls unangenehm und vor allem unangebracht ist.

Das Autonomiebedürfnis von Kindern und Jugendlichen zu bestätigen, ja sogar positiv zu würdigen, ist für die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit unumgänglich. Kränkungen und Ärger der Eltern haben in diesem Stadium keinen Platz. Sie müssen vom jeweiligen Elternteil selbstbestimmt bearbeitet, verarbeitet und integriert werden. Kinder haben weder die Pflicht noch die Verantwortung, sich emotional um ihre Eltern zu kümmern.

Wenn ein gutes Miteinander angestrebt wird, jede/r ihre/seine Freiräume hegt und pflegt, ist es für junge Menschen viel leichter, diese auch für sich zu entdecken, eine stabile Persönlichkeit zu entwickeln, in dem sie ihr Bedürfnis nach Nähe und Distanz gut kennen und auch artikulieren können. Und wenn gutes Miteinander ein hoher Wert in der Familie war, werden die jungen Erwachsenen ebenfalls danach streben, solche Beziehungen zu führen. Im Privaten, aber auch im Beruflichen. Gutes Miteinander impliziert – für mich zumindest - immer Gemeinschaft, übernehmen von Aufgaben, sich einbringen, sich umeinander kümmern und sich um sich selbst kümmern. 😊

 

© Barbara Güpner-Planner, M.A.

www.leben-als-kunst.at